
Marion Grunauer
Fachspezialistin Kommunikation und Marketing
Englisch, Französisch
Welcher Weg ist der richtige für mich? Wie gehe ich mit Herausforderungen um? Worin liegt der Sinn des Lebens? Es sind Fragen der Spiritualität, der Wert- und Sinnsuche, mit denen sich die Seelsorge befasst. Fragen, die weder einfach noch rein wissenschaftlich zu beantworten sind. Im Interview gibt Meret Engel Aufschluss. Zwar nicht über den Sinn des Lebens, aber über ihre Arbeit und ihre Erlebnisse als Seelsorgerin bei der Psychiatrie St.Gallen Nord.
Die Sonne steht bereits tief am Himmel. In ein paar Stunden wird sie am Horizont auf den Bodensee treffen und ein Feuer entfachen. Ein Feuer, das Himmel und Wasser in roten, orangen und gelben Farbtönen erstrahlen lässt. Aber noch ist es nicht so weit. Noch brechen sich die Sonnenstrahlen in einem Glitzern auf den Wellen und noch hat die Romanshornerin Meret Engel einen Augenblick Zeit. Einen Augenblick, um zu geniessen, sich der liebenden Kraft und des unsichtbaren Netzwerks, das uns alle umgibt, bewusst zu werden. Aber auch, um wieder einmal wahrzunehmen, dass es mehr auf dieser Erde gibt, als wir sehen, messen und berechnen können.
Wenn Meret Engel in ihrer Funktion als Seelsorgerin der Psychiatrie St.Gallen Nord auf die Stationen geht, dann bringt sie vor allem eines mit: Zeit. Zeit, um sich nach den Patientinnen und Patienten zu erkundigen, Gespräche zu führen, aber auch einfach einmal zuzuhören. «Manchmal braucht es nicht mehr. Nur jemanden der präsent ist», betont Engel. Dabei ist es gerade das, was einen wesentlichen Teil der Seelsorge ausmacht: das Präsent- und Fassbarsein, das Sich-Zeigen. So wissen die Menschen auf der Station, Mitarbeitende eingeschlossen, dass da eine Person ist, mit der sie reden können, wenn sie das Bedürfnis haben. Besonders auf der Demenz und Delir Spezialstation sowie im Spezialwohnheim Eggfeld verbringt Meret Engel viel Zeit. Aber auch auf den anderen Stationen schaut sie regelmässig vorbei – manchmal als Teil der Morgenrunde, damit neue Patientinnen und Patienten ihrer Person eine Funktion zuordnen können und manchmal auch schlicht auf einen Kaffee bei den Mitarbeitenden.
Das sind kostbare Momente, die in Zeiten von Corona nicht selbstverständlich sind. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger der Psychiatrie St.Gallen Nord konnten ihrer Tätigkeit zwar auch während des Lockdowns weiterhin nachgehen, doch die Spannung war auf allen Stationen spürbar. «Vor allem die Patientinnen und Patienten der Alterspsychiatrie und die Bewohnerinnen und Bewohner des Spezialwohnheims Eggfeld haben sehr unter dem Besuchsverbot gelitten», erinnert sich Meret Engel.
Auch wenn man Meret Engel oft auf den Stationen begegnet, findet ein bedeutender Teil ihrer Arbeit «zwischen den Häusern» statt. Dann nämlich, wenn sie unterwegs auf dem Areal in Wil angesprochen wird. «Da kann es schon einmal sein, dass ich mich mit jemandem in einem halbstündigen Gespräch über Gott und die Welt verliere.» In einigen Fällen fasst sie nach und bittet die entsprechende Person zu einem Anschlussgespräch in ihr Büro im Haus A01. Oft reicht aber auch der spontane Schwatz zwischen den Häusern. Das unvorhersehbare Gespräch zwischen Tür und Angel, wenn Personen einfach die Chance des Moments ergreifen. «Das ist wichtig und macht die Seelsorge so wertvoll», ist Engel überzeugt. Denn die Seelsorge sei ein Angebot, das man ergreifen könne oder eben auch nicht. So komme es auch durchaus vor, dass Patientinnen, Bewohner oder Mitarbeitende Engels Gesprächsangebot mit einem höflichen «Nein, danke» ablehnen. Das gelte es dann zu akzeptieren. «Wobei es sich in einigen Situationen durchaus lohnt, nachzuhaken». Manchmal ergebe sich gerade dann eine spannende Diskussion – über Barrieren, schlechte Erfahrungen und Religion. Hin und wieder ist es nämlich der Ursprung der Seelsorge in der christlichen Religion, der die Menschen zögern lässt. «Dann ist es wichtig zu betonen, dass ich hier keine Institution vertrete. Jeder ist bei mir willkommen, unabhängig von Konfessions- oder Religionszugehörigkeit.»
Jeder ist willkommen. Das ist ein Motto der Seelsorge und gilt auch für Patientinnen und Patienten der Forensik Spezialstation oder für schwer psychotische Personen im geschlossenen Bereich der Akutstation. Bedrohlich wirkende Situationen können da durchaus vorkommen. Einmal beispielsweise hatte ein Patient mitten im Gespräch mit Meret Engel eine Psychose erlitten. «Das war schwierig. In dem Moment habe ich mich überfordert gefühlt». Umso wichtiger sei die enge und vertraute Zusammenarbeit mit den Pflegepersonen, Ärztinnen und Ärzten. «Die Personen der Pflege müssen darauf vertrauen können, dass ich ihnen Auffälligkeiten zurückmelde, genauso wie ich darauf vertrauen muss, dass sie ein offenes Ohr für mich haben, wenn ich an meine Grenzen stosse.» Dabei gehe es darum, voneinander zu lernen und an schwierigen Situationen gemeinsam zu wachsen, aber auch um Psychohygiene. «Für mich ist in manchen Fällen eine Nachbesprechung wichtig, um Geschehenes reflektieren und einordnen zu können», sagt Meret Engel. Hierzu stösst sie nicht nur bei den Pflegepersonen auf offene Ohren, sondern auch in ihrem Seelsorgeteam der Psychiatrie St.Gallen Nord.
Obwohl Meret Engel sich mit den Personen der Pflege über Patientinnen und Patienten austauscht und ihre Besuche sowie Thema des Gesprächs im Patientendossier einträgt, steht sie unter Schweigepflicht. Ausnahmen sind Situationen, in denen sie befürchtet, dass jemand sich oder anderen etwas antun möchte. Die Schweigepflicht macht Sinn, denn: «So wissen die Patientinnen und Patienten, dass sie bei mir einfach einmal abladen dürfen, ohne dass jedes Wort dokumentiert und in einen therapeutischen Prozess miteinbezogen wird.» Aber auch Mitarbeitenden fällt es leichter, sich zu öffnen, wenn sie wissen, dass sie ohne Folgen für Job, Ansehen und Beziehungen sprechen dürfen. Das könne laut Meret Engel ein Schutz sein, um auch einmal etwas Unaussprechbares auszusprechen. Wenn beispielsweise der Tod des Partners mehr Erleichterung als Last ist oder im Leben ein schwerer Fehler begangen wurde.
Mit der Schweigepflicht öffnet sich ein Raum, wo Angst, Scham und Wut ihren Platz haben, ebenso wie Glück und Freude. Nur moralische Verurteilungen sucht man hier vergeblich. «Die Seelsorge stärkt die Menschen, hält schwierige Situationen mit aus und verurteilt sie nicht», betont Meret Engel und schlägt eine Brücke zur Religion. Denn gerade beim Thema Schuld und Vergebung könne diese eine entscheidende Rolle einnehmen. «Einige brauchen das nicht, aber es kann wohltuend sein, eine erdrückende Last Gott zu übergeben.» Und vielleicht hilft dabei auch das Wissen, dass es mehr auf dieser Erde gibt, als wir sehen, messen und berechnen können.
Herzlichen Dank, Meret Engel, für das anregende Gespräch.
Dass ich Menschen auf einem Abschnitt ihres Weges begleiten darf. Das kann intensiv sein und diese Intensität im Schönen als auch im Traurigen empfinde ich an meinem Beruf als grosse Bereicherung.
Stai Zitta, ein Buch von Michela Murgia, einer italienischen Schriftstellerin und Regisseurin. Darin geht es um die Ermutigung von Frauen, nicht immer ruhig zu sein, sondern sich aktiv einzubringen.
Milch.
Ich liebe Tiere, habe aber keine Haustiere. Einerseits aus Zeitgründen, andererseits, weil ich mich an Tieren, wie zum Beispiel Vögeln, lieber in freier Natur erfreue.
Wandern und Freunde treffen. Ich mache gerne zweiwöchige Rucksacktouren in der Schweiz, war aber auch schon in England, der Slowakei oder in Italien unterwegs
Ich würde gerne mehr den Augenblick geniessen. Mehr absichtslos und ohne Zeitdruck etwas tun, wie beispielsweise am Bodensee sitzen und auf den See rausblicken.
Für meine Familie und die Menschen, die mir nahestehen. Ich bin dankbar für die Gesundheit und dass ich in der Schweiz leben darf. Aber auch, dass ich immer wieder in meinem Leben das Glück hatte, auf gute Menschen zu treffen, von denen ich viel mitnehmen durfte und die mich gefördert haben.
Ich ärgere mich extrem, dass es im Klimaschutz nicht vorwärtsgeht. Das stösst bei mir auf Unverständnis. Im Alltag ärgere ich mich aber auch über Rücksichtslosigkeit oder wenn Menschen beim Reden auf ihr Handy schauen und nicht präsent sind.
Mit vielem. Ich freue mich über spontane Begegnungen, wenn mich jemand einfach anspricht oder ich das Gefühl habe, dass sich jemand wirklich für mich interessiert. Aber auch zu einer guten Schachtel Sprüngli Pralinés würde ich nicht Nein sagen.
Meret Engel ist 1976 geboren und lebt in Romanshorn. Fürs Theologiestudium hat sie sich im zarten Alter von 23 Jahren entschieden, weil sie die existenziellen Fragen des Lebens interessierten. Die Entscheidung fürs Pfarramt fiel später in einem Austauschjahr in Hamburg in der Seemannsmission und wurde durch die Mithilfe bei einem kirchlichen Jugendtreff, ebenfalls in Hamburg, gestärkt. Seit 2008 arbeitet Meret Engel als Pfarrerin in Romanshorn-Salmsach. Nach einer Weiterbildung in der Seelsorge fand sie vor eineinhalb Jahren den Weg zur Psychiatrie St.Gallen Nord.
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