Was bedeutet Würde im Kontext von psychischer Gesundheit? Welche Rolle spielt die eigene Wertschätzung auf dem Genesungsweg? Wie können Fachpersonen Betroffene auf ihrem individuellen Weg begleiten und ihre Würde stärken? Wie erleben Angehörige Würde in ihrer Rolle und in Bezug auf ihre Beziehung zur erkrankten Person und wie sind Begegnungen auf Augenhöhe möglich?
Als ganzer Mensch betrachtet werden
Die zahlreichen Besucherinnen und Besucher verfolgten am Vormittag nach der Begrüssung durch Thomas Maier, Chefarzt der Psychiatrie St.Gallen Nord, das Referat einer Frau mit Psychiatrie-Erfahrung und ein weiteres Referat einer Angehörigen. Beide Vorträge waren sehr persönliche Lebensgeschichten, eindringlich und dicht in ihren Aussagen. Den Referentinnen gebührt grosser Respekt. Auch an der diesjährigen Tagung zeigte sich, dass persönliche Geschichten und Erfahrungen helfen, Situationen zu verstehen. Für alle Beteiligten war es unglaublich wichtig, voneinander zu hören und im Austausch zu sein. Eine Referentin brachte es auf den Punkt: «Würde strahlt aus, ist spürbar. Sie ist eine innere Haltung, die in unserem Handeln, unserem Denken und Sprechen erfahrbar wird. Zentral scheint mir, dass wir einander als ganzen Menschen betrachten.»
Jeder Mensch hat eine Würde
In seinem Referat «Hilft Würde wirklich?» am Nachmittag ging André Böhning, katholischer Seelsorger, Psychoonkologe, systemischer Supervisor und Coach der Psychiatrie St.Gallen Nord auf den unterschiedlichen Umgang mit dem Begriff Würde ein. Würde sei ein nicht genau definierter höchster Wert des Menschen. Den Umgang mit dem Begriff Würde kritisiert Böhning als inflationär. Nicht alles sei gleich eine Frage von Würde, sondern habe vielleicht mit Respekt, mit Ernst-nehmen, etc. zu tun. Als normativer Wert sei die Würde etwas Unveräusserliches und übergeordneter Begriff, von dem sich jedoch alle Menschenrechte ableiten. Die Würde sei unantastbar. Sie sei auch niemandem zu nehmen – nicht durch das Verhalten von anderen, nicht mal durch Folter, nicht durch irgendein Gesundheitssystem. Selbst der grösste Verbrecher habe eine Würde. Die Würde bestimme sich nicht durch das Handeln, dritte Meinungen oder irgendwelche Kriterien. Sonst könnten wir im Umkehrschluss anderen die Würde absprechen. «Auf den Einzelfall bezogen, bewegen wir uns dagegen mit dem Begriff Würde im Spannungsfeld von Autonomie und Selbstbestimmung», erläutert Böhning den heutigen individuellen Umgang und die persönliche Definition von Würde. Das Recht auf Selbstbestimmung der Patienten wurde in den vergangenen Jahren gestärkt. Der Suche nach der grösstmöglichen Autonomie gegenüber stehen gleichzeitig Werte, die sich verändern: Patienten möchten Angehörigen nicht zur Last fallen, sie wollen nicht abhängig sein. Am deutlichsten sei dieses Ringen um Autonomie und Würde in der Psychiatrie bei Behandlungen ohne Zustimmung erkennbar, die für alle Beteiligten, also Patienten, Fachpersonen und Angehörige oftmals als schwierig und entwürdigend empfunden werden.
Würde durch existentielle Verbundenheit
André Böhning zeigte in seinem Vortrag weiter auf, dass Würde durch den Beistand der Angehörigen und die Behandlung durch die Fachpersonen auch wiederhergestellt werden kann. Er plädiert für eine trialogische existentielle Verbundenheit, die dazu beiträgt, dass wir intensiv miteinander um das Verständnis von Würde ringen. Keiner der Beteiligten könne ohne Rücksicht auf andere Beteiligte ein abgeschlossenes, nur für sich geltendes Verständnis von Würde durchsetzen wollen, da es sich im Klinikgeschehen immer um ein relationales und nie ganz autonomes Beziehungsgefüge handele. Die meisten Dilemmata in ethischen Fallbesprechungen führen zu dem Zwiespalt das die eine Seite Gutes tun möchte, das Gegenüber unter Berufung auf Autonomie aber am bisherigen Weg festhalten wolle. Die Zeiten des Paternalismus in der Behandlung seien zwar nicht vollständig vorbei und würden auch nie ganz weg sein, aber es habe sich viel zu mehr Mitbeteiligung aller entwickelt.
Mehr Toleranz
«Würde ist Anspruch auf Achtung und Respekt von und für alle Beteiligten», so Böhning abschliessend. Damit plädierte er nicht zuletzt für mehr Toleranz, insbesondere in Fällen, in denen die Gesprächspartner unterschiedliche Würdeverständnisse haben. Vor allem im Dialog und gegenseitigen Verständnis könne die Würde dann auch wirklich helfen.
Ein erfolgreicher Anlass
Für Unterhaltung sorgte das Spiegeltheater «Die Zugvögel», das die Stimmung der einzelnen Vorträge meist humorvoll aufnahm und das Publikum zwischen den einzelnen Beiträgen zu Bewegung animierte. Den Abschluss der Tagung gestalteten Betroffene, Angehörige und Fachleute gemeinsam in gewohnt trialogischer Weise. Die Gäste waren vollends zufrieden, fühlten sich wohl und schätzten den Tag sehr. Die von der Psychiatrie St.Gallen Nord, der VASK Ostschweiz und Trialog St.Gallen organisierte Säntis-Psychiatrie-Tagung war erneut ein voller Erfolg.
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