«Es war ein wichtiger und entscheidender Schritt, die Fallführung an geeignete Pflegefachpersonen zu übergeben.»
Eine stationäre Behandlung erfolgt anhand festgelegter Vorgaben und in interprofessioneller Zusammenarbeit. Dabei liegt die fachliche Verantwortung grundsätzlich beim jeweiligen Oberarzt bzw. bei der jeweiligen Oberärztin. Die Übertragung der Fallführung an geeignete Pflegefachleute mit entsprechender Kompetenz hat sich bei uns bereits etabliert. Im Interview mit Assimena Saviane, Pflegefachfrau HF und Carmine Di Nardo, Direktor Pflege, Therapien und Soziale Arbeit erfahren wir mehr dazu:
Was versteht man unter Fallführung?
Gemeint ist das steuern, leiten und verantworten des Versorgungsprozesses eines pflegebedürftigen Menschen in stationärer Behandlung anhand festgelegter Vorgaben und unter Einbezug der Patientenpräferenzen. Dabei werden die interprofessionelle Zusammenarbeit und die institutionellen Gegebenheiten mitberücksichtigt und die Übergänge zu vorgängig bzw. nachfolgend betreuenden Teams oder Fachkräften gezielt koordiniert. Mögliche Berufsgruppen zur Ausführung der Fallführung sind festgelegt: Assistenzärztinnen und -ärzte, Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter und Pflegefachleute HF oder FH.
«Fallführung Pflege – bei uns ein Erfolgsmodell!»
Wie seid ihr vorgegangen? Welche Grundlagen habt ihr geschaffen?
Bereits im 2015 haben wir uns zum Ziel gesetzt, in unserem stationären Klinikbetrieb neue Modelle der interdisziplinären Teamarbeit zu fördern, damit die einzelnen Berufsgruppen verstärkt ihrer Kernkompetenz entsprechend eingesetzt werden können. Eine wichtige Voraussetzung dafür bildete das Konzept «Fallführung durch andere Berufsgruppen». Dieses sah vor, dass die Fallführung künftig berufsgruppenunabhängig und indikationsspezifisch von geeigneten Fachleuten mit entsprechender Kompetenz übernommen werden konnte.
Die fachliche Verantwortung für die Behandlung einer Patientin bzw. eines Patienten sollte dabei, unabhängig von neuen Modellen, nach wie vor grundsätzlich beim jeweiligen Oberarzt oder der jeweiligen Oberärztin liegen. Künftig sollte es jedoch möglich sein, die Fallführung an Pflegefachleute mit entsprechender Kompetenz und fachlichen Kenntnissen zu übertragen. Diese Fachleute würden im Rahmen des im 2017 erarbeiteten Konzeptes «Personalentwicklung Pflege» gezielt gefördert und auf die neuen Aufgaben hin ausgebildet werden. Abhängig von individuellen Fähigkeiten, beruflicher Erfahrung und persönlicher Affinität sollten qualifizierten Mitarbeitenden eine der vier internen Laufbahnen zur Verfügung stehen: Fallführung, Pflegeexpertin oder -experte Station, Berufsbildung oder die Führung (Abteilungsleitung).
Hat sich die Fallführung durch die Pflege etabliert?
Ab 2018 wurde die Fallführung und die gezielten Weiterbildungsmassnahmen auf den Behandlungsstationen der Psychiatrie St.Gallen in Pfäfers eingeführt und sind punktuell bereits etablierter Bestandteil der Behandlungsstrukturen. Die Weiterbildungsmassnahmen konnten seither ergänzt und angepasst werden, sodass die Behandlungsstationen über Pflegefachpersonen verfügen, die nicht nur auf hohem Kompetenzniveau arbeiten, sondern die Fallführung auch gemäss den individuellen Bedürfnissen der Stationen übernehmen können. Zudem findet das Fallführungskonzept mittlerweile Eingang in die internen Ausbildungsstrukturen, wodurch bereits angehende Pflegefachkräfte mit den Vorgaben vertraut werden, was massgeblich zum modernen Selbstverständnis des Pflegeberufes als eigenständige und autonom entscheidende Profession beiträgt. Die als Fallführende eingesetzten Pflegefachpersonen verfügen über ein erweitertes spezifisches Fachwissen und ein vertieftes Verständnis für professionsübergreifender Abläufe. Dies führt zu hoher Behandlungsqualität und einem hierarchisch flachen Teamgefüge.
Das hört sich nach einem «Win-win-Konzept» an. Ist das so?
Ja, durchaus. Wir konnten Mehrwerte in den unterschiedlichen Bereichen schaffen. So führten die oben genannten Massnahmen bei den Ärztinnen und Ärzten in unserem Klinikbetrieb zu einer generellen Entlastung. Sie können ihre Ressourcen verstärkt auf ihre Kernkompetenz (Diagnostik und Behandlung) konzentrieren. Für die Pflegefachkräfte bedeutete die Einführung des Modells ein enormes Fortschreiten in der Professionalisierung ihres Berufs. Sowohl die Selbstwahrnehmung von Pflegekräften, als auch die Wahrnehmung durch andere Berufsgruppen und auch durch Patientinnen und Patienten wandelt sich zunehmend.
Die fortschrittliche und richtungsweisende Haltung in der Psychiatrie St.Gallen fördert diesen Prozess. Mit Blick auf die berufspolitischen Veränderungen sehen wir es als vorbildlich an, wie die professionelle interdisziplinäre Behandlung gestaltet und die Kompetenzen der einzelnen Berufsgruppen optimal genutzt werden, damit eine qualitativ hochwertige und noch effizientere Versorgung sichergestellt werden kann.
Autorin und Autor: Assimena Saviane, Pflegefachfrau HF und Carmine Di Nardo, Direktor Pflege, Therapien und soziale Arbeit