Der Recovery Ansatz kann je nach Perspektive unterschiedlich wahrgenommen werden. Dorine Ammann, Leiterin Pflege, Therapien und Soziale Arbeit bei der Psychiatrie St.Gallen in Wil, führt aus, warum für sie «Recovery» im Pflegealltag wichtig ist und wie das Thema mit dem Einsatz von «Peers» im Klinikbetrieb verknüpft ist.
Wieso stellt die Arbeit mit Peers ein wesentliches Element der Implementierung von Recovery in der psychiatrischen Behandlung dar?
Dorine Ammann: Peers bringen ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen Krisen und ihrem individuellen Genesungsweg in die Behandlung ein. So integriert Peer-Arbeit zentrale Werte und Prinzipien des Recovery-Konzepts – etwa Erfahrungswissen, Hoffnung, Empowerment und eine personenzentrierte Unterstützung – direkt in den Behandlungsalltag. Sie trägt dazu bei, eine menschliche, respektvolle und zielorientierte psychiatrische Versorgung zu schaffen.
«Peers bringen ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen Krisen und ihrem Genesungsweg in die Behandlung ein».
Wie können Patientinnen und Patienten in stationärer Behandlung von Peers profitieren?
D. Ammann: Das Einbringen von eigenen Erfahrungen mit psychischen Krisen und wie eine Genesung gelingen kann können Fachpersonen nicht in gleicher Weise leisten wie dies durch Peers möglich ist. Dieses Erfahrungswissen ergänzt das Fachwissen der Fachpersonen und bietet Patientinnen und Patienten Hoffnung und Inspiration, indem es zeigt, dass Genesung und ein erfülltes Leben trotz psychischer Erkrankung möglich sind. Peers teilen ihre eigenen Erfahrungen mit Coping-Strategien, dem Umgang mit Krankheitssymptomen und alltagsnahen Lösungen. Diese Tipps können für Patientinnen und Patienten alltagsrelevanter und leichter anwendbar sein als rein klinische Empfehlungen. Dadurch vermitteln ihre Geschichten Hoffnung und motivieren, aktiv am eigenen Recovery-Prozess zu arbeiten.
«Das Erfahrungswissen der Peers ergänzt das Fachwissen der Fachpersonen und bietet Patientinnen und Patienten Hoffnung und Inspiration».
In der Klinik in Wil verstärkt im April eine erste Peer das Pflegeteam. In welchen Abteilungen kommt sie zum Einsatz?
D. Ammann: Der erste Einsatz von Peers in Wil ist auf der Aufnahme- und Notfallstation 1 und der Psychotherapiestation 60+ geplant. Diese Stationen haben sich schon intensiv mit Recovery auseinandergesetzt. Zudem lassen sich dort Peergruppen mit genügend Teilnehmerinnen und Teilnehmern gut implementieren.
Du hast schon in anderen Institutionen erfolgreich Peer-Arbeit implementiert. Was gilt es zu beachten?
D. Ammann: Peers und das interdisziplinäre Pflege- und Behandlungsteam müssen gut begleitet sein. Die Grundsätze von Recovery müssen auf den Stationen bekannt sein und alle Beteiligten müssen sich vor der Implementierung grundsätzlich positiv zu diesem Thema positionieren. Gerade wenn Peer-Arbeit in einer Klinik neu eingeführt wird, sollten Peer-Mitarbeitende im Idealfall schon Erfahrung mit der Arbeit auf einer Station mit dem jeweiligen Behandlungsschwerpunkt mitbringen.
Es gibt auch Vorbehalte unter psychiatrisch tätigen Fachpersonen, Peers einzustellen. Etwa, dass eine Patientin oder ein Patient mehr auf der Station zu betreuen ist, dass datenschutzrelevante Fragen zu klären sind und Peers selber in ihrer psychischen Verfassung noch instabil sein können. Was entgegnest du diesen Vorbehalten?
D. Ammann: Alles was den Patientinnen und Patienten hilft, ihren Genesungsweg zu gehen, sollte von uns unterstützt werden. Peers haben eine Weiterbildung abgeschlossen, die sie zur Ausübung der Arbeit befähigt. So sind sie geschult in den Themen Datenschutz und Abgrenzung. Zudem sind Peers gesundheitlich nicht automatisch instabiler als andere Arbeitnehmende, die auch Krisen und Krankheiten erleben können. Entscheidend ist der Umgang mit einer eigenen Verletzlichkeit, Sensibilität oder Einschränkung.
Wenn du einen Blick in die Zukunft wirfst: Wie würdest du dir den Stand der Recovery-Entwicklung in der psychiatrischen Versorgung in 10 Jahren wünschen?
D. Ammann: Ich hoffe, dass die Peer-Arbeit nicht erst in 10 Jahren, sondern schon früher in allen Bereichen der medizinischen Versorgung eine Selbstverständlichkeit sein wird und dass die Peers helfen, die Vorurteile gegenüber den stationären Behandlungen abzubauen. Es geht darum, ein gemeinsames Verständnis für die Notwendigkeit verschiedenster stationärer und ambulanter Angebote zu entwickeln. Der trialogische Diskurs in der Recovery-Arbeit sollte dabei als selbstverständlich wahrgenommen und gelebt werden.
Vielen Dank für das Interview, Dorine.
Dieses Interview wurde im «Recovery Newsletter» der Psychiatrie St.Gallen im Januar 2025 publiziert.